Plaudern wir also über die Barbarei!

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, hat angeregt, „eine offene Debatte darüber zu führen, welche Patienten und Krankheiten künftig mit welcher Priorität behandelt würden“. Es gebe nämlich zu viel Heimlichtuerei im heutigen Gesundheitswesen, ja: eine „heimliche Rationierung“.
Das ist natürlich ein Unding. Das macht auch dem neuen Ruhrbischof ganz besonders zu schaffen: „Wer hat eigentlich in Zukunft in welchem Maße Zugang zu medizinischen Leistungen?†Folgen wir doch der Aufforderung des Oberhirten Franz-Josef Overbeck! Hören wir doch, was der Sprecher der deutschen Ärzte sagt! Lasset uns der Wahrheit ins Auge sehen! Sprechen wir doch einfach ganz tabulos darüber, wer künftig die teuren Medikamente bekommen soll und wer nicht! Plaudern wir also über die Barbarei! 

Ärztepräsident Hoppe befand in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS): „Diese Entscheidung muss die Politik treffen, nicht die Ärzteschaft.“ Und vorher muss freilich gründlich über die ganze Angelegenheit diskutiert werden, und zwar am besten von denen, die davon etwas verstehen. Und das sind in diesem Fall, so Hoppe, „Medizinethiker und Gesundheitsökonomen“.
Und die Menschen, die erwerbsmäßig in diesen Sandkästen spielen, lassen sich dies natürlich nicht zweimal sagen. Die „Medizinethiker und Gesundheitsökonomen“ stehen auf der Stelle Gewehr bei Fuß und lassen sich schon im besagten FAS-Artikel zitieren. Okay, machen wir gerne, sagt der Ökonom. Klare Kiste, springt die Ethikerin bei.
"Die Diskussion über Rationierung im Gesundheitssystem muss jetzt geführt werden", sagte auch der Gesundheitsökonom Friedrich Breyer von der Universität Konstanz. Gute Arbeit, die die Leute von der Frankfurter Allgemeinen da abgeliefert haben! Der Arzt braucht dringend einen Ökonomen, und der Ökonom ist zur Stelle. Und Herr Breyer ist genau der richtige.
Das Wirtschaftswachstum verlangsame sich, und die Menschen würden immer älter. "Wir schaffen es nicht mehr, den Zuwachs an medizinischem Wissen und Kosten durch unsere wachsende Wirtschaft zu finanzieren." Wir schaffen es nicht mehr, wir schaffen es nicht mehr. Und wenn wir schon kein Recht mehr darauf haben, dass unsere Krebserkrankung anständig behandelt wird, dann wollen wir wenigstens wissen warum.
Angesichts dieser Lage forderte Breyer mehr Transparenz für die Versicherten. Genau! Wir leben schließlich in einer Demokratie, und außerdem ist das ein Gebot der Ethik, ganz genau: der Medizinethik. Bitte, Frau Woopen!
Die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen sagte, dass es in Deutschland ein Tabu sei, darüber zu sprechen, welche Krankheiten mit welcher Priorität behandelt werden. Schlimm, nicht wahr?! Und so nett formuliert von der ethischen Fachfrau! „Welche Krankheiten“ – süß! Aber mit der tabulosen Brechstange kommt man weder in Köln noch in der Medizinethik wirklich weiter.
Sicher, es geht nicht um die Frage „welche Krankheiten“. Das Thema der anstehenden Debatte heißt: welche Patienten. Denn egal, ob Krebs, HIV, MS oder sonst was: überall gibt es hoch effektive, allerdings leider auch recht teure Präparate, die der Mehrheit der Erkrankten vorenthalten werden. Rationierung. Denn „wir schaffen es nicht mehr“, sagt der Ökonom. Und die Ethikerin?
 "Dieses Tabu sollte dringend aufgehoben werden", sagte Woopen, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Also, damit wir uns recht verstehen, nicht das Vorenthalten medizinisch notwendiger Arzneimittel sollte dringend aufgehoben werden, sondern das Tabu, auf dem Marktplatz herumzuschreien, welche Leute man gerade verrecken lässt und welche nicht.

Seit letztem Wochenende ist die deutsche Gesellschaft diesbezüglich einen großen Schritt weiter. Das Tabu ist noch nicht ganz gebrochen, aber immerhin: der Tabubruch hat begonnen. Auf der ersten Seite in einem großen Aufmacher berichtete die WAZ über das FAS-Interview. Die Schlagzeile: „Ärztepräsident warnt: Teure Medizin nicht mehr für jeden“. Direkt dazu der Kommentar:
„Endlich offen über die heimliche Rationierung im Gesundheitswesen zu diskutieren, wie es manche Experten jetzt fordern, ist das eine.“ „Das eine“ heißt, das wäre doch schon mal was. Plaudern wir also über die Barbarei! Aber:
„Dabei darf es aber nicht bleiben. Eine Debatte über eine gerechtere Versorgung muss sich anschließen.“ Ja klar: nicht nur die heimliche Rationierung öffentlich, also unheimlich machen, sondern auch die unheimliche Rationierung organisieren.
„Das bedeutet auch, Einsparmöglichkeiten zu nutzen, vor denen die Politik bislang zurückschreckte, …“ – ach ja? Welche denn? „… etwa bei den Arzneimittelkosten.“
Entschuldigung. Um genau diese geht es doch. Was will uns die WAZ damit sagen?

Aussagen will die WAZ damit gar nichts. Sie will andeuten. Und steht damit nicht allein. Oberarzt Hoppe verfährt so, der Ruhrbischof, und in der gestrigen Bundestagsdebatte auch die Abgeordnete Vogler von der Linksfraktion. Man richtet den Zeigefinger auf die monopolistischen Preissetzungspraktiken der Pharmakonzerne und erweckt dabei nebulös den Eindruck: „Ja Leute, wenn das Zeug nicht so teuer wäre, würdet Ihr es auch bekommen.“
Und in der Tat: über die Preispolitik der Pharmamultis ließe sich eine Menge erzählen. Über ihre Lobbyarbeit in Berlin, über ihre Absatzstrategien, die ganzen Arztpraxisteams als „Fortbildung“ getarnte Urlaubsreisen in den sonnigen Süden bescheren. Diese Dinge sind genauso allgemein bekannt wie der Umstand, dass die hocheffizienten Präparate bei Erkrankungen wie Krebs, HIV, MS oder sonst was in den Händen genau der Konzerne sind, die sie entwickelt haben.
Ãœbrigens auch die weniger effizienten Substanzen. Die moderneren und wirksameren sind halt nur um einen vielfach höheren Preis zu haben. Und hier sind wir an dem Punkt, wo in Deutschland massenhaft rationiert wird. Hier geht es also um das (Preis-) Verhältnis zwischen den (klassischen) Präparaten und den „modernen“, nicht etwa um das Preisniveau. Und für die neuen, hocheffizienten Substanzen gilt, dass sie international zu den (etwa) gleichen Preisen auf dem Markt sind, während die Preise für Präparate ohne Patentschutz bekanntlich auf den nationalen Märkten stark differieren.  

Es ist nicht daran zu denken, hocheffiziente Arzneien bspw. zur Krebstherapie in Deutschland preiswerter als andernorts erhalten zu können. Und es ist davon auszugehen, dass die Nachfolgegenerationen der hier zur tabulosen Debatte anstehenden Medikamente abermals teurer sein werden als ihre Vorgänger.
Und genau deshalb macht dem Ruhrbischof die Frage „zu schaffen“: „Wer hat eigentlich in Zukunft in welchem Maße Zugang zu medizinischen Leistungen?†Genau deshalb möchte Jörg-Dietrich Hoppe „eine offene Debatte darüber führen, welche Patienten und Krankheiten künftig mit welcher Priorität behandelt würden“.
Die Debatte hat begonnen, und sie läuft unter der Überschrift „Priorisierung“. Plaudern wir also über die Barbarei? Oder sagen wir: darüber ist mit uns nicht zu reden! Erarbeiten wir ein Regelwerk für Missstände, wovon der Kölner Stadtanzeiger zurecht spricht, oder sorgen wir dafür, dass endlich damit Schluss gemacht wird, schwer kranken Menschen medizinisch notwendige Behandlungen vorzuenthalten?

Die Entscheidung gegen den Missstand der heimlichen Rationierung, der Weg aus der gegenwärtigen Barbarei, käme uns sehr teuer. Ob wir die Preissetzungsmacht der Pharmaindustrie zurückdrängen können oder nicht. Dagegen wäre eine Plauderei darüber, wer, weil es sich bei ihm oder ihr sowieso nicht mehr so richtig lohne, leider früher von uns gehen muss, kostenlos zu haben.
Eine schwierige Frage. Wenn man sie den „Medizinethikern und Gesundheitsökonomen“ überlässt, kann ich Ihnen trotzdem schon jetzt sagen, wie die Antwort ausfallen wird.

Werner Jurga, 22.01.2010

 

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