Anerkennen oder nicht anerkennen?

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Doch wirklich, ich kann mich noch an seinen Namen erinnern. Er tut aber nichts zur Sache; denn die Story liegt dreißig Jahre zurück. Man war also noch jung.

Es war an der Uni auf einer Studentenvollversammlung. Ein paar Hundert Leute saßen im Audimax, und er ging in die „Bütt“. So weit nichts Besonderes. Man kannte ihn ja, er war politisch und gab so ziemlich auf jeder VV - so der damalige (?) Jargon – etwas zum Besten. Meistens etwas Beachtliches.
So auch diesmal. Nur, dass diesmal sein Wortbeitrag ganz besonders beachtlich ausfiel. Das werde ich mein Leben nicht vergessen. Ein paar hundert Leute im Audimax, er das Mikrofon in der Hand – und dann die entscheidende Information: „Ich erkenne die BRD nicht an!“
Allgemeine Heiterkeit im Saal. Das fand er freilich nicht so gut. Vielleicht war er sogar direkt verärgert, als er noch einmal zu Protokoll gab: „Ja, Ihr habt richtig gehört: ich erkenne die BRD nicht an!“
Kerl, was haben wir gelacht! Leider kann ich Ihnen weder sagen, worum es inhaltlich in der Debatte ging, noch was ihn zu dieser Nicht-Anerkennungspolitik bewogen hatte. Ich weiß es einfach nicht mehr. Die Konsequenzen und der historische Kontext seiner Strategie der Nicht-Anerkennung sind schnell erzählt.
Die BRD hat seine Aberkennung bis heute überlebt. Der Kontext: die BRD hatte sich damals geweigert, die DDR anzuerkennen. Da hatte er eben die BRD nicht anerkannt. Dabei war er weder Mitglied noch Sympathisant einer von der DDR bezahlten Studentengruppe. Er muss wohl auf irgendetwas in der BRD sauer gewesen sein. Wie gesagt: ich weiß nicht mehr worauf.

Da war der Umstand, dass die BRD die DDR nicht anerkannt hatte, schon von einem ganz anderen Kaliber. Ich will nicht sagen, dass deshalb ein paar Jahre später die DDR ihren Geist aufgegeben hatte. Das wäre übertrieben: direkt eindimensional. Und wir hatten damals gelernt, alles viel differenzierter zu sehen. Doch die SED-Bosse und auch ihre sowjetischen Freunde hatten sich damals nichts sehnlicher gewünscht, als die Anerkennung des deutschen Arbeiter- und Bauernstaats durch den westdeutschen Klassenstaat.
Diesen Gefallen hatte ihnen aber der Klassenfeind nicht getan. Die BRD blieb eisern: keine Anerkennung der DDR. Womit sie deutlich zum Ausdruck brachte: eigentlich dürfte es Euch überhaupt nicht geben. Eigentlich müsstet Ihr weg! Euer ganzer Staat! Eigentlich müsstet Ihr irgendwie kaputt gehen, kaputt gemacht werden oder sonst wie verschwinden. Wir wünschen uns nichts sehnlicher als das. Und siehe da: der Traum wurde wahr.
Was lernen wir daraus: wenn einer den anderen ausdrücklich nicht anerkennt, will er, dass der andere kaputt geht. Ob daraus etwas wird, weiß man nicht. Doch ist eine Nicht-Anerkennung durch einen Schwächeren von vornherein uninteressant, bestenfalls urkomisch. Sollte man jedoch von einem Stärkeren nicht anerkannt werden, ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass man gefressen wird. 

„Ich muss niemanden anerkennen“, erklärte der ehemalige Berliner Finanzsenator und jetzige Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin im Interview mit der Zeitschrift Lettre International, „der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“
Herr Sarrazin ist Banker und Politiker. Man kann ihm schwerlich zugute halten, er wisse nicht, was er sagt. Er hätte ja sagen können: „Ich kann niemanden dafür Anerkennung zollen, dass er staatliche Leistungen bezieht.“

Sarrazin

Thilo Sarrazin

Oder dafür, dass er sich nicht genug um die Ausbildung seiner Kinder kümmert. Oder … nun gut, das mit dem Produzieren von Kopftuchmädchen …
Man benötigt nicht unbedingt ein wissenschaftliches Gutachten, um auf die Idee zu kommen, dass diese Äußerung rassistisch sein könnte. Gut, Sarrazin hätte sagen können, dass Kinderreichtum in prekären Verhältnissen nicht immer ein Segen sein muss, und dass einige Migranten ihren Töchtern das Leben dadurch erschweren, dass sie sie in eine archaische, frauenfeindliche Tradition fesseln.
So hätte er sich ausdrücken können, hat er aber nicht, und zwar ganz bewusst nicht. Sarrazin hat ganz bewusst seine Anerkennung nicht einer bestimmten Lebensweise verweigert, sondern bestimmten Menschen.

Das von zwei Verbänden der Berliner SPD beim Moses-Mendelssohn-Zentrum (MMZ) in Auftrag gegebene 21-seitige Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Sarrazins Äußerungen „eindeutig rassistisch“ sind. Das MMZ ist ein An-Institut der Universität Potsdam und befasst sich schwerpunktmäßig mit europäisch-jüdischen Studien. Gideon Botsch, der Autor der Studie, begründet dieses Urteil mit der von mir zitierten Stelle im Interview, da sie „tendenziell auf physische Elimination dieser nicht anzuerkennenden Bevölkerungsgruppen aus der Berliner Stadtgesellschaft hinausläuftâ€.
Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingestellt, und Sarrazin hat sich inzwischen für die Äußerungen im besagten Interview entschuldigt. Damit könnte die Sache eigentlich erledigt sein. Immerhin darf man in Deutschland alles sagen, was nicht, wie z.B. Volksverhetzung, ausdrücklich verboten ist.
In Deutschland schon, aber nicht unbedingt in der SPD. Dabei darf man in demokratischen Parteien schon eine ganze Menge sagen. Und wenn man eine Partei mit einem besonders breiten Meinungsspektrum sucht, ist man bei der SPD gewiss nicht ganz falsch.
Wenn ich mich nur nach der Beschlusslage meiner Partei richte, werde ich zu den Beschlüssen der Partei kaum etwas beisteuern können. Wenn ich das Programm meiner Partei nicht anzweifelte, müsste ich mich sehr wundern, wenn es dann doch plötzlich ein neues gibt. Und wenn ich dächte, meine Partei habe immer Recht, dann wäre das Verb „denken“ völlig fehl am Platz.

Und doch: wer es „nicht anerkennen“ kann, dass manche Menschen „vom Staat leben“, hat in der SPD nichts zu suchen. Am Rande: Sarrazin lässt auch kaum eine Gelegenheit aus, eine deutliche Kürzung der Sozialleistung – auch für Ur-Deutsche – zu fordern. Mein Studienkollege hatte damals „diesen Staat abgelehnt“, ihm gar die Anerkennung verweigert. Ich hatte diese Aussage abgelehnt, wäre jedoch niemals auf die Idee gekommen, dem Kommilitonen die Anerkennung als Mensch zu verweigern. Und ich finde es schlimm, wenn Eltern sich nicht genug um (die Ausbildung ihrer) Kinder kümmern. Diese Leute alle nicht anerkennen?
Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingestellt. Das heißt, sie hatte zumindest einen Anfangsverdacht. Folgt man Gideon Botsch vom MMZ, haben wir es bei der Sarrazin-Äußerung tendenziell mit einem eliminatorischen Rassismus zu tun. Beide können irren, sowohl die Staatsanwälte als auch das MMZ.
Thilo Sarrazin hat erklärt, er wolle sich mit allen Mitteln gegen einen Ausschluss aus der SPD zur Wehr setzen. Das ist sein gutes Recht, und er wird gewiss Argumente dafür zu Schilde führen können, dass er kein Rassist sei. Nachvollziehbare Argumente. Die Parteischiedskommission seines „Heimatkreises“ hatte in einem ersten Verfahren festgestellt, Sarrazin habe weder parteischädigend noch ehrlos gehandelt. Schwer nachvollziehbar.

Mein Tipp: Thilo Sarrazin wird der SPD einstweilen erhalten bleiben. Er will unbedingt bleiben, weil außerhalb der Partei sein Wort wenig Beachtung fände. Und die SPD wird sich keinen Ärger einhandeln wollen wegen eines Mitglieds, dem ohnehin keine große Beachtung mehr zukommen sollte.
Beziehungen, die auf rein taktischen Nützlichkeitserwägungen basieren, weil nämlich einer den anderen im Grunde „nicht anerkennt“ scheitern. Gesetzmäßig. Und Gesetzmäßigkeiten exekutieren sich über den Zufall. Und wann der mal so ganz zufällig eintritt, ist nicht vorhersehbar. Dass er früher oder später eintreten wird, ist dagegen sicher.

Werner Jurga, 10.01.2009

 

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