Keine Westerwelle im braunen Sumpf

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Noch blöder als Karneval ist kein Karneval. Und kein Karneval fängt am Aschermittwoch an. Den gibt es selbstverständlich auch in der Politik, wo er – wie sinnig – politischer Aschermittwoch heißt. Die ganze Veranstaltung kommt aus Bayern. Das Copyright für diesen Event hat eigentlich die CSU, in Person des unvergessenen Franz-Josef Strauß.

Im Laufe der Zeit hat sich die Bierzelt-Politik epidemisch auf die anderen Parteien ausgebreitet, teilweise sogar auf Orte außerhalb des bajuwarischen Freistaates. Allerdings: die Top-Veranstaltungen aller Parteien finden auf bayrischem Boden statt. Und die besten, weil die eigentlichen und unerreichbaren, sind nun einmal die Christsozialen.
Horst Seehofer, als ihr Vorsitzender sozusagen der Statthalter Franz-Josefs auf Erden, hatte dann auch den Volltreffer des Kein-Karneval-Auftakttages, als er das Palaver, das seit einer Woche die politische Debatte des Landes zu beherrschen scheint, einordnete als „Kein Tsunami, nur eine Westerwelle“. Kein Karneval scheint doch nicht so schlecht zu sein.

Man empörte sich nach Kräften über Westerwelles Gastbeitrag in der „Welt“ zur Altweiberfastnacht. Am letzten Donnerstag, also den 11. Februar 2010, gab der FDP-Vorsitzende zum Besten: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein." Dies ist der meist zitierte Satz aus dem auch ansonsten abgrundtief langweiligen Beitrag.
Ich wurde jedoch den Eindruck nicht los, diese Weisheit wie auch jeden anderen Baustein aus diesem die Republik in ihren Grundfesten erschütternden Dokument schon einmal irgendwie, irgendwo und irgendwann von Deutschlands Freiheitskämpfer Nummer Eins vernommen zu haben.
Spiegel Online war jetzt so freundlich, einen Blick in die Archive zu werfen; und siehe da:

■ Westerwelle im September 2003 in der "Welt am Sonntag": "Die deutsche Politik trägt mittlerweile Züge der Dekadenz. Auf der ganzen Welt werden die Wohlstandschancen verteilt, das Wirtschaftswachstum ist höher als bei uns. Und wir gewähren Viagra auf Sozialhilfe."
â–  Im November 2003 im "Focus": "Die deutsche Politik - die Politiker und die Meinungsmacher - hat mittlerweile einen ordentlichen Schuss Dekadenz."
■ O-Ton Westerwelle in einem Interview mit der "Wirtschaftswoche" im Dezember 2006: "Die deutsche Politik hat Züge von Dekadenz. Anstrengungsloses Einkommen den Menschen und anstrengungslosen Wohlstand der Nation vorzugaukeln, war schon der Grund für den Untergang des Römischen Reiches."
■ In der "Bild"-Zeitung im Juni 2007: "Es ist dekadent, der Bevölkerung vorzugaukeln, es gäbe Einkommen ohne Anstrengung."
■ Im Mai 2008 in der "Süddeutschen Zeitung": "Ich halte es für dekadent, dass in unserer Gesellschaft das Soziale mit dem Staatlichen gleichgesetzt wird, und dass nur derjenige als mitfühlender Mensch gilt, der für staatliche Umverteilung ist."

Noch nicht im „Welt“-Text hat sich der Gedanke befunden, dass diejenigen, die arbeiten, mit anderen Worten: die „Mittelschicht“ die „Deppen der Nation“ seien. Den hat Westerwelle in den folgenden Tagen dann noch draufgelegt. Den Gedanken, sollte es sich dabei um einen handeln. Gedanke oder nicht – egal: auch dieser Spruch ist alles andere als neu. Ich hatte ihn bereits vor zwei Jahren vernehmen können.
Zeit Online bringt eine dpa-Meldung, derzufolge der SPD-Vorsitzende über die CDU-Vorsitzende gepoltert habe, Merkel “sei eine «Biederfrau bei den Brandstiftern», weil sie Westerwelle Benzin habe ins Haus tragen lassen und sich nun wundere, dass der Dachstuhl brennt.â€
Man möchte meinen, es müsse am Bierzelt von Vilshofen liegen, dass Sigmar Gabriel in der Wahl seiner Metapher so grässlich daneben liegt. Dass er in der zurückliegenden Woche wiederholt meinte, sich in dieser Sache auf Max Frischs Klassiker beziehen zu dürfen, muss nicht unbedingt dagegen sprechen. Es war ja die ganze Woche Karneval; da hat er gewiss nie die Einladung zum Bier so einfach ablehnen können.
Hannelore Kraft, Vorsitzende und Spitzenkandidatin, wusste freilich gleich, was die Stunde geschlagen hat. Frischs Brandstifter stehen metaphorisch für die Nazis. Nur: so verschwurbelt, wie es der Sigmar bringt, kapiert das mal wieder bestimmt kein potenzieller Wähler an Rhein und Ruhr. Also gibt Hannelore, die Wahlkämpferin, gleich einmal so richtig die Kante: Westerwelle fischt im „braunen Sumpf“. Das sitzt.

Frau Kraft ist also der Auffassung, Westerwelle habe in seinem Gastbeitrag für die „Welt“, wie man heute so sagt: „rechtspopulistische“ oder, wie ich sagen würde, faschistoide Thesen vertreten. Nun gut, es handelt sich nicht um einen Geheimtext; noch mal: Sie finden ihn hier.
Sollten Sie sich dieses Westerwellersche Standard-Gelaber nicht antun wollen, was ich verstehen könnte, lassen Sie es sich gesagt sein: da ist mittendrin dieser eingangs zitierte Satz. Davor und dahinter dieses seit Jahren bekannte neoliberale Zeug. Was da nicht ist: irgendetwas Braunes. Irgendetwas, das nur entfernt Assoziationen an Blut und Boden, an Deutschtümelei oder Herrenrasse zuließe. Nichts, gar Nichts.
Westerwelle ist bekennend lebender Schwuler, Westerwelle hat die Revanchistin Steinbach in ihre Schranken gewiesen, Westerwelle hat mit dem Rechtspopulismus nichts zu tun. Was sollen also diese unqualifizierten Andeutungen?
Seit wann wird im „braunen Sumpf“ der Kapitalismus über den grünen Klee gelobt? Westerwelle und seine FDP sind fest im Westen verankert; dort, wo er die USA kritisiert hat, befand er sich im Einklang mit den Sozialdemokraten. Dass er vor Jahren Möllemanns antisemitische Hetze laufen ließ, ist wahr. Aber eben auch: Vergangenheit. Außenminister Westerwelle hat seinen ersten Staatsbesuch in Israel absolviert, und zwar einwandfrei.

Westerwelle ist ein wirtschaftliberaler Politiker. Er hat die FDP auf seinen marktradikalen Kurs eingeschworen. Die gegenwärtig ungünstige politische Situation versucht er, durch eine Offensive der Sprüche zu „drehen“. In der Berliner Koalition droht die FDP auf zentralen Feldern zu scheitern. Fliegt sie aus der Landesregierung in NRW heraus, ist Westerwelle gescheitert. Schwarz-Grün erscheint als Schreckensbild am Horizont: die FDP droht zur Politsekte einiger kapitalistischer Radikalinskis zu werden.
Dass in dieser Situation führende Sozialdemokraten Westerwelle Vorwürfe machen, die vollkommen an der Sache vorbei gehen, gibt erstens kein gutes Bild ab und könnte sich zweitens bitter rächen. Denn es dauert noch eine ganze Weile, bis in NRW gewählt wird. Warum sollte es Westerwelle bis dahin nicht schaffen zu erläutern, dass seine Gegner hier wahlkampfgetrieben unsachlich „argumentieren“?!
In der Sache geht es um das Lohnabstandsgebot, das von niemanden in Zweifel gezogen wird. Diesem Gebot kann man dadurch gerecht werden, indem die Löhne erhöht oder aber die Hartz-Vier-Leistungen gesenkt werden. Oder indem flächendeckende Mindestlöhne eingeführt oder aber die Steuern gesenkt werden.
Westerwelle steht nicht mit leeren Händen da; er hat Zeit, und er weiß das. Daraus resultiert seine Unerbittlichkeit. Deshalb macht er Fehler. Ihm jetzt mit eigenen Fehlern zu antworten, ihm zu folgen auf dem Weg der Nervosität, der Verbissenheit und der dramatisierenden Propaganda, würde Westerwelle ziemlich früh die Umkehr zu seinem – neulich äußerst erfolgreichen – Steuersenkungs-Pop ermöglichen.

Westerwelle sagt es nicht offen; aber es ist klar. Und viele in der Union machen wenig Hehl daraus, dass sie es letztlich genauso sehen: die Hartz-Vier-Sätze sollen gesenkt werden. Im NRW-Wahlkampf sollte es um die Frage gehen, ob die Leute dies auch wollen. Oder ob sie das Lohnabstandsgebot durch flächendeckende Mindestlöhne und allgemein durch eine expansive Tarifpolitik gewährleistet wissen wollen.
Man lese und staune: die überwältigende Mehrheit ist gegen eine Politik der Steuersenkungen. Warum auch immer. Und dieser Mehrheit liegt auch das Lohnabstandsgebot sehr am Herzen. Hieran gilt es anzuknüpfen. Das Gerede über den „braunen Sumpf“, in dem sich Westerwelle angeblich bewege, geht auch insofern in eine völlig falsche Richtung. Und ganz unabhängig davon: es gehört sich nicht.
 

Werner Jurga, 18.02.2010

 

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