Zum Verrücktwerden

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Diese Woche hat mich eine Psychologin angerufen. Eine amerikanische sogar. 

Wie bitte?! Das interessiert Sie nicht? Sie erwarten stattdessen: Fakten, Fakten, Fakten? Themen wie Afghanistan, Klimawandel und Steuersenkungen. Das ist verständlich, aber auch etwas schwierig. Fakten sind doch wohl so etwas wie Tatsachen, und an die kommt man nun einmal nicht ganz so einfach dran. Schon gar nicht, wenn es um Angelegenheiten wie Afghanistan, Klimawandel oder Steuersenkungen geht.
Außerdem: Fakten, Fakten, Fakten – schön und gut. Aber ich muss auch an die Leser denken. Und die möchten – gerade am Wochenende, und erst recht so kurz vor Weihnachten – auch mal etwas Anderes lesen. In ihrer Mehrzahl jedenfalls. Geschichten mit einem lokalen Bezug, gern auch etwas Persönliches. Und deshalb – ja genau deshalb! – ist es für die überwältigende Mehrheit sehr wohl von Interesse, dieses Telefonat zwischen der amerikanischen Psychologin und mir.

schizophren

Es wird zu einem
bösen Ende führen

Sie ist nämlich Duisburgerin, die Amerikanerin. Und dass es persönlich wurde in diesem Gespräch, … - mein Gott, die Frau ist Psychologin. Halten wir fest: die ganze Geschichte ist absolut lokal, und sie hat human Touch. Vergessen Sie also Afghanistan, Klimawandel und Steuersenkungen! Öffnen Sie sich für die wirklich interessanten Stories, die das Leben selbst schreibt!
Es war unser erstes Gespräch. In der kommenden Woche werden wir uns vis-à-vis kennenlernen. Interessant, was? Es plätscherte so vor sich hin, das Gespräch, bis sie mich mit einer bemerkenswerten These konfrontiert hatte. Es sei durchaus möglich, behauptete sie, eine Schizophrenie zu behandeln, selbst wenn man selbst nicht schizophren ist. Ich stutzte. „Sure?“ fragte ich vorsichtig nach. Da sei sie ganz sicher, insistierte sie. Ich dachte mir: „Sach ma nix!“

Wahrscheinlich hätte sie gar behauptet, auch Nicht-Neurotiker könnten eine Neurose behandeln, Nicht-Paranoide könnten eine Paranoia usw. So als hätten wir es mit einem Schnupfen oder mit einem Beinbruch zu tun. Amerikanische Psychologen! Ich sagte einfach nichts. 

Vielleicht verlangt man auch einfach zu viel. Wir vernachlässigen nationale Besonderheiten und kulturelle Unterschiede. Daran wird es liegen. Vieles unserer - ich nenne es einmal: - emotionalen Grundausstattung kennen die dort auf der anderen Seite des großen Teiches ja überhaupt nicht.
Ein Beispiel: unsereins hat Geschichtsbewusstsein und von daher auch ein feines Gespür für die Probleme der Zukunft. Die Nation, also unsere, sind Abend für Abend gebannt vor dem Fernseher und verfolgt, wie in Kopenhagen um die Existenz der Menschheit gerungen wird. Das ZDF Politbarometer konnte gestern verkünden, dass für 78 Prozent der Bundesbürger der Klimawandel laut Umfrage ein sehr großes oder großes Problem ist.
So ein Bewusstsein entsteht natürlich nicht über Nacht. So war bspw. vor dreieinhalb Jahren im „Spiegel“ zu lesen:
 

69 Prozent der Deutschen erwarten Klimakatastrophe

Und so geht es in dem Artikel los: „Die Gefahren der globalen Erwärmung werden der Bevölkerung immer bewusster. Einer Umfrage zufolge glauben mehr als zwei Drittel der Deutschen, dass der Klimawandel zu einem bösen Ende führen wird.“
Mein Reden: es wird böse enden. Aber, aber … - weiter im Text:
Aber nur eine kleine Minderheit ist auch für höhere Spritpreise.

So etwas bleibt einem, wenn es über Jahre geht, nicht in den Klamotten stecken. Jeden Abend Weltuntergangsstimmung wegen der bösen Abgase. Am nächsten Morgen dann auch wieder Weltuntergangsstimmung, weil man wieder einmal im Stau steht. Fahre ich durch die Stadt oder nehme ich die Autobahn? Weil der Verkehrsfunk auch nach fünf Minuten nichts für „meine“ Autobahn gemeldet hat, nehme ich die Bahn (nein, nicht den Zug), und stehe wieder einmal mitten drin. Hoffentlich ist die Stadt auch dicht!
Irgendwann wird man mal bekloppt. Normal! Und jetzt stellen Sie sich nur einmal vor, Sie bemühen sich dann um professionelle Hilfe. Schlimm genug. Und dann würden Sie an diese amerikanische Psychologin geraten, die hier in Duisburg ganz frisch ist.

So eine kann sich doch gar nicht in Ihre, in unsere tägliche Pein einfühlen. Den Verkehrsinfarkt haben die Amis auch; aber der Klimawandel geht denen am Arsch vorbei. Klar, dass so eine dann meint, sie könne die Schizophrenie behandeln, obwohl sie selbst gar nicht schizophren ist. Ich prophezeie Ihnen: so eine wird uns nie verstehen können. Wir könnten ihr klarmachen, dass beim Spritpreis die Schmerzgrenze nun wirklich erreicht ist.
Das würde sie checken; die Amis bilden sich nämlich ein, dass dies bei ihnen auch der Fall sei, obwohl bei denen … ich flippe gleich aus. Sie könnten sich über den Benzinpopulismus der Politiker beklagen. Kein Problem, würde sie sofort verstehen. Vielleicht würden Sie es sogar schaffen, ihr all den Trouble um die Pendlerpauschale letztes Jahr zu erklären. Aber was hätten Sie davon?
Nein, nein, so eine kann uns nicht helfen. Sie kann uns gar nicht verstehen. In Amerika, okay, da kann man eine Schizophrenie behandeln, selbst wenn man selbst nicht schizophren ist. Aber hier. Eine Therapeutin, die sich qua Abstammung schlichtweg nicht einfühlen kann. Wie soll das gehen.

Klimawandel. Sie wollten doch auch noch etwas zu Afghanistan hören. Nicht wahr. Und was war noch einmal das dritte?

Werner Jurga, 12.12.2009

 

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