Wer hat´s erfunden?

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Eigentlich ganz witzig, diese Werbespots. Diese Serie von Werbespots für einen einzigen Bonbon. Irgendwelche Lutschies preisen in nationaler Hemmungslosigkeit diese bittere Süßigkeit als einen Erfolg ihres jeweiligen Landes: der spanische Macho, der englische Lackaffe, der saunierende Finne – bis sich dann der tapfere Eidgenosse, mit wuchtiger Entschlossenheit, im Grunde fast schon gewalttätig, in die Bresche schlägt mit der furchtlos vorgetragenen rhetorischen Frage:
 

Wer hat´s erfunden?

Unverzüglich knicken die prahlenden Weicheier aus den EU-Ländern ein, um pflichtschuldigst – und mit erheblichem Gesichtsverlust – mit der Wahrheit herauszurücken: „die Schweizer“. Und der Betrachter des Fernsehspots ist stolz auf diesen tapferen Wilhelm-Tell-Verschnitt. Er soll es jedenfalls sein und sich mit dem Gedanken anfreunden: ja, das könnte doch auch etwas für mich sein. Dieser herbe Bonbon.
Oder heißt es das Bonbon? Egal. Es ist ja auch irgendwie süß. Der oder das bittere Bonbon, und vor allem die. Ja, die Schweizer! Gut, sie haben nicht unbedingt die allerbesten Manieren. Dafür stehen sie aber zu ihren eidgenössischen Errungenschaften, wie z.B. diesem Bonbon. Frei heraus, ehrlich, unerschrocken. Und vor allem: demokratisch bis zum Geht-nicht-mehr!
Ja, die Schweizer! Die haben nämlich echte, will sagen: direkte Demokratie. Jawohl: Volksabstimmungen. Ist man sich mal in der einen oder anderen Sache nicht einig – gut, dann wird eben abgestimmt. Gut, Volksabstimmungen, direkte Demokratie und so – das gibt es auch anderswo. Aber nirgendwo so viel; und vor allem: wer hat´s erfunden?

Direkte Demokratie – entstanden in den eingeschneiten alpinen Bergdörfern – hat sich seit langem gemausert zum Traum des aufgeklärten, politisch gemäßigt links stehenden Großstädters. Für die Grünen ist das Bekenntnis zur Volksabstimmung fester Glaubensbestandteil seit Gründungszeiten. „Basisdemokratisch“ – daran hat sich in all den Jahren nichts geändert. Jedenfalls offiziell nichts. Auf allen anderen Politikfeldern nach zähem Streit endlich erwachsen geworden, eine Entwicklung vollzogen von der Alternative zur Alternative zur FDP, inzwischen selbst nach allen Seiten offen, darf an diesem Essential keineswegs gerüttelt werden.
Warum auch? Plebiszitäre Elemente sind einfach angesagt. Sagt auch der Bundespräsident, sagten auch seine Vorgänger, und findet inzwischen auch – man höre und staune – die angeblich so verknöcherte SPD. Und auch die Linkspartei war von Anfang an dafür. Und es wäre doch gelacht, würde man Union und FDP nicht auch noch mit der Zeit rumkriegen. Zur wahren, zur wirklichen, also zur direkten Demokratie.

Zugegeben, das mit den Minaretten jetzt, das haben die Schweizer falsch gemacht. Es müsse schon sichergestellt sein, argumentieren die linksliberalen Volksfreunde hierzulande, dass zur Abstimmung gestellte Vorschläge auch der Verfassung entsprechen. Am besten vor der Volksabstimmung.
Dann könne so etwas wie die „Panne“ jetzt in der Schweiz erst gar nicht passieren. Sicher, da sind sich alle einig: wenn es in Deutschland möglich wäre, das Volk über ein Verbot von Minaretten abstimmen zu lassen, sähe das Resultat womöglich nicht viel anders aus. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Kirchen und alle Parteien sagen einhellig Nein, das Volk aber trotzdem Ja. Nicht zur Religionsfreiheit, sondern für ein Verbot von Minaretten.
Politisch links stehende Frauen hätten den Ausschlag für das Plebiszit gegeben, ist jetzt in der taz zu lesen. So gesehen haben wir es also mit einem eindrucksvollen Votum gegen die Unterdrückung der Frau zu tun. Die Volksabstimmung angeregt hatte allerdings die SVP, die in den Medien „rechtspopulistisch“ genannt wird. Im Urlaub hatte ich eine politisch links stehende Schweizerin kennen gelernt, die großen Wert auf die Feststellung legte, bei Herrn Blocher, dem SVP-Führer, handele es sich um einen Faschisten. Innere Angelegenheiten der Schweiz.

Denn hier sollen ja, geht es nach der von mir favorisierten politischen Farbkombination Rot-Rot-Grün, nur Plebiszite zugelassen werden, die ver-fassungskonform sind. Was immerhin die Frage aufwirft, wer eigentlich bestimmt, was mit den Menschenrechten in Einklang zu bringen ist, und was nicht. Klar: das Bundesverfassungsgericht.
Doch dessen Rechtsprechung ändert sich im Laufe der Jahre. Heute kommen aus Karlsruhe Urteile für die (partielle) Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe. Bis weit in die 60er Jahre wurden Menschen allein deshalb verfolgt, weil sie schwul waren. Ist Ihnen ein Urteil bekannt, das dies als unvereinbar mit den Normen des Grundgesetzes erklärt hätte.
Sie mögen einwenden, dieses Beispiel spreche ja eher gegen die repräsentative Demokratie, für die ich hier eine Lanze brechen möchte. Nein, das tut es nicht. Es wird nur angeführt, um zu zeigen, dass das Urvertrauen in die unverrückbare Verfassung bzw. in das unverrückbare Verfassungsgericht täuschen könnte, wenn das Volk erst einmal von der Leine gelassen ist.

Sie halten diese Formulierung geprägt von einem gewissen Misstrauen in die Weisheit des Volkes? – Da haben Sie Recht. Es ist eben dieses Misstrauen, das die Streiter für direkte Demokratie an den Tag legen, wenn sie darauf verweisen, dass ja „nur“ verfassungskonforme Fragen zur Abstimmung vorgelegt werden dürfen.
Aber die Rechten haben auch ihre Juristen. Also kein Plebiszit über die Wiedereinführung der Todesstrafe, sondern „nur“ eine Abstimmung darüber, dass für Mörder und „Kinderschänder“ grundsätzlich eine Sicherungsverwahrung zu verhängen ist. Parole: lebenslänglich muss lebenslänglich sein. Also keine Abstimmung, die Schwule wieder in den Knast bringt (warum eigentlich nicht), sondern nur … – was sollen wir denn mal sagen? Und gegen eine Volksabstimmung gegen den EU-Beitritt der Türkei ist ohnehin nichts vorzutragen.
Andererseits: gegen die Atomkraftwerke ist eine Mehrheit sicher. Sicher? Selbst dann, wenn die Atomlobby monatelang massiv Geld in Public Relations steckt? Also nicht nur ein paar mehr, und vor allen Dingen gescheitere Anzeigen schaltet als jetzt. Sondern wenn sie nachdrücklich mit Werbe- und Anzeigenboykott droht, Einfluss auf die redaktionelle Arbeit – auch des Fernsehens - nimmt, ihren Einfluss auf die Parteien geltend macht etc.
Wenn über Monate hinweg eine Kohorte von Professoren dem Volk vorrechnet, wie stark der Strompreis ansteigen würde, wenn, ja wenn … Würden die Leute dann dem Greepeace-Experten Peer Teer glauben, dass dies gar nicht stimme, nur weil Sigmar Gabriel so ähnlich argumentiert. Oder würden sie dem nationalen Impuls folgen, dass ausgerechnet wir so blöd sind, wo doch alle Anderen um uns herum …?

Egal. Einem guten Demokraten sollte das Resultat wurscht sein; er sollte demokratische Entscheidungen nehmen, wie sie fallen. Gute Demokraten. Was ist jetzt Demokratie noch einmal genau. Das Recht der Mehrheit? Oder das Menschenrecht? Beides zusammen geht nicht. Wer diesen Widerspruch leugnet, relativiert oder auch nur verdrängt, lügt sich eins in die Tasche. Bestenfalls, also: wenn er oder sie gutwillig ist.

Ist dieser kleine, hässliche Krakeeler, der mit dem Bonbon, der diese arroganten Europäer so unerbittlich vorführt, eigentlich gutwillig? Oder hat er es nur erfunden?

Werner Jurga, 03.12.2009

 

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