Volk

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

VOLK

die „Hohmann-Affäre“, Juden und andere Völker ... und gute Menschen

Am 3. Oktober, unserem Nationalfeiertag, sah sich im Jahre 2003 der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann gemüßigt, festzustellen, dass die Deutschen so schlimm nun auch wieder nicht seien, dass man vielmehr auch die Juden mit einiger Berechtigung als Tätervolk bezeichnen könne:

„Meine Damen und Herren,

wir haben nun gesehen, wie stark und nachhaltig Juden die revolutionäre Bewegung in Rußland und mitteleuropäischen Staaten geprägt haben. Das hat auch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson 1919 zu der Einschätzung gebracht, die bolschewistische Bewegung sei "jüdisch geführt". Mit einer gewissen Berechtigung könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten Revolutionsphase nach der "Täterschaft" der Juden fragen. Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als "Tätervolk" bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet.“

Hohmann, der nicht nur Unterstützung aus seiner hessischen CDU, sondern auch aus der Bundeswehr erhielt, wurde nach einigem Hin und Her erst auf Intervention von Angela Merkel aus der CDU ausgeschlossen.

Der damalige WAZ-Chefredakteur, der freilich das braune Gesindel verurteilt hat, warf darüber hinaus noch eine grundsätzliche Frage zum Thema „Volk“ auf:

"Wer einem Volk als Ganzem bestimmte Eigenschaften zuordnet ... " (ich zum Beispiel - ziehe die italienische Küche der englischen vor), "... welche auch immer ..." (weitere Beispiele: Sprechgeschwindigkeit, Musikgeschmack, Einstellung zur Erwerbsarbeit, Haltung gegenüber Fremden), muss sich fragen lassen, was denn über die Zugehörigkeit zu einem Volk entscheidet."

 Etwas über meine Kindheit ...

Als Kind habe ich in den 60er Jahren häufig meine Ferien in Amsterdam bei meiner Großtante verbracht. Die deutsche Katholikin Maria ist in den 20er Jahren dorthin gezogen, weil sie einen Holländer geheiratet hatte. Onkel Jopie, mein Lieblingsonkel, hieß eigentlich Abraham, sie nannte ihn "Bram", aber "Jopie" kam in Amsterdam irgendwie besser.

In den 40er Jahren musste Maria ihren jüdischen Mann verstecken - vor den Deutschen, nur vor den Deutschen? Ach ja, die Nachbarn. Großen Anfeindungen ihrer Nachbarschaft war sie ausgesetzt, weil sie gleichzeitig ihrem Bruder immer ´mal ´was zu essen zugesteckt hat. Mein Onkel Herrmann (also: Großonkel) war als junger Bengel Soldat in der Besatzungsarmee - in Amsterdam.

In den 60er Jahren musste Maria den kleinen Enkel ihrer Schwester, also mich, vor der Nachbarschaft in Schutz nehmen. "Der kleine Junge kann da doch nicht für!" schrie sie häufig genug - freilich auf niederländisch. Tante Maria sagte immer: "In jedem Volk gibt es gute Menschen, in jedem Volk gibt es auch schlechte Menschen." Das leuchtet mir sofort ein; in etwas modifizierter Form hänge ich diesem Gedanken noch heute an.

In den späten 60er Jahren hatte ich auf dem Gymnasium einen Klassenlehrer, der seine Nazi-Vergangenheit meinte mit Schuld- und Sühne- (nee, Sühne eigentlich nicht), mit Schuldbekenntnissen vor 10- bis 12jährigen Kindern meinte bewältigen zu können. Er bläute uns ein, Pauschalurteile seien unzulässig (na okay), und man dürfe nicht sagen: DIE Juden, DIE Italiener, DIE Engländer, DIE Polen usw., folglich auch nicht: DIE Deutschen. Das Letzte (die Deutschen) fand ich schon damals zum Schmunzeln - der gläubige Protestant erteilte sich irgendwie selbst Absolution. Das Erste (die Juden) schien mir nicht in diese Aufzählung zu gehören - für mich war Onkel Jopie nun eben ein Holländer. Und überhaupt schien mir der ganze Gedanke unzutreffend zu sein.

Da konnte mir auch als Kind keiner etwas Anderes erzählen: ich wusste, dass Holländer anders sind als Türken (im Haus wohnten die ersten „Gastarbeiter"), dass Italiener (das waren die allerersten Gastarbeiter) anders sind als Deutsche. Ich hatte mich aber nicht getraut, dies dem Lehrer zu sagen. Denn wenn die Rede auf Rudi Dutschke und die 68er kam, da wurde der christliche Biedermann richtig böse: er habe damals ja auch auf der Straße mitgemacht, und wenn jetzt der Pöbel Autos demoliere, da fühle er sich schon an die Kristallnacht erinnert. Und dann fing er an zu weinen - vor der Schulklasse, weil er ja ...

 ... und dann: ein WAZ-Kommentar

Im oben zitierten WAZ-Kommentar wird nun gefragt:

"Wer einem Volk als Ganzem bestimmte Eigenschaften zuordnet ... " (ich zum Beispiel - ziehe die italienische Küche der englischen vor), "... welche auch immer ..." (weitere Beispiele: Sprechgeschwindigkeit, Musikgeschmack, Einstellung zur Erwerbsarbeit, Haltung gegenüber Fremden), muss sich fragen lassen, was denn über die Zugehörigkeit zu einem Volk entscheidet."

Spontan würde ich antworten: Volkszugehörigkeit ist mir ohnehin völlig wurscht. Schon damit hätte ich mich als Deutscher geoutet. Es ist nämlich wirklich "typisch deutsch", jedenfalls für die nach dem Krieg - besser: nach diesem "dunklen Kapitel" - Geborenen, dass sich jeder Hinterwäldler als Weltbürger, mindestens aber als Europäer bezeichnet. Also: "ich versteh´ mich gar nicht so als Deutscher!" ist keine gute Antwort.

Besser ist da schon - in Anlehnung an einen jüdischen Witz: alle sagen, Du bist ein Deutscher, also bist Du einer. Das ist sehr treffend, nicht etwa, weil die Mehrheit immer Recht hätte, nicht einmal eine überwältigende Mehrheit. Vielmehr: jeder Auslandsaufententhalt macht das Leugnen des eigenen Nationalcharakters schwieriger.

Norbert Elias

Den Begriff "Nationalcharaker" habe ich von Norbert Elias; er benutzte ihn in verschiedenen Werken, insbesondere in seinen "Studien über die Deutschen". Kurz gesagt: nach Elias entwickelt sich der Nationalcharakter aus kollektiven historischen Erfahrungen. So hat sich bspw. die Nazizeit tief in das Bewusstsein deutscher Menschen eingegraben - im Guten wie im Schlechten. Das Trauma des Luftkrieges, des Bombenterrors gegen die Zivilbevölkerung lebt in Gestalt dieses merkwürdigen "Pazifismus" in der deutschen Bevölkerung weiter. Ich meine, hier bei den Deutschen das "Überbietungssyndrom" sehen zu können, das Elias, selbst Deutscher, dem deutschen Nationalcharakter attestiert. Ich weise hier auf  seine Ausführungen über die manisch-depressiven Tendenzen ("Himmelhochjauchzend - Zutodebetrübt") zu lesen - sie passen so "schön" zur "Stimmung" während des Umbaus der Sozialsysteme.

Norbert Elias, obgleich seine Eltern in Auschwitz ermordet wurden, ist wiederholt des Rassismus´ bezichtigt worden - von Menschen, die sich für besonders "gute" hielten. Ich glaube nicht, dass diese "alternativen" Menschen besonders "böse" sind - besonders bösartig aber schon. Ich führe das auf die - typisch deutsche - Kombination von Verbissenheit und ideologischer Verblendung zurück.

Norbert Elias hat seine letzten Jahrzehnte in Amsterdam verbracht. Das führt mich gedanklich zurück zu Tante Maria und mir selbst. Tante Maria ist tot, deshalb kann ich ihr nicht mehr sagen, dass kein Mensch nur "gut" ist, und dass kein Mensch nur "böse" ist - auch Martin Hohmann nicht. Allerdings: Hohmann - ein korrekter, wie man hört anständiger, deutscher Mensch ist schon sehr, sehr böse ... geworden, aus welchen - allenfalls psychoanalytisch zu erfassenden - Gründen auch immer. Jedenfalls scheint er, sich als guten Menschen wähnend, mit den antideutschen Ressentiments, die in allen Nachbarländern anzutreffen sind, nicht gut zurecht gekommen zu sein.

Holländer, Deutsche ... und Leitkultur

Auch mich hat es gewurmt, dass diejenigen, die meinen Lieblingsonkel Jopie, also Abraham, bei der Gestapo verpetzt hatten, mich so schlecht behandelt hatten, als ich ein Brot kaufen wollte. Ich fand es gemein. Aber schon als Sechsjähriger sah ich den Zusammenhang mit dieser "düsteren Zeit". Ich hätte es damals nicht so ausdrücken können, aber mir war klar: die wollten sich entlasten, ihr Gewissen reine machen.

Den Holländern wird es - mehr oder weniger, für eine kurze oder längere Weile - gelungen sein, Herrn Hohmann nicht. Auch das könnte uns eigentlich egal sein; wenn wir nicht wüssten, dass viele Deutsche von ähnlichen Problemen heimgesucht werden. Und das muss ja nicht; das tut den Menschen wirklich nicht gut ... und außerdem: die Deutschen haben halt so ihren Nationalcharakter. Wir sind kein "Tätervolk", ich finde auch: zurecht Unwort des Jahres. Meine Mutter (* 1939) hat niemandem etwas Böses getan, Tante Maria sowieso nicht - und Anne Frank schon gar nicht. Aber Deutsche sind bspw. ... nein nicht "faschismusanfälliger" als andere, wirklich nicht! Aber, sagen wir: gründlicher. Wir mögen keine "halben Sachen"; "Nachhaltigkeit", jawoll das ist es! Oder kann man das Wort "Endlösung" in andere Sprachen übersetzen?

Was mich selbst betrifft, möchte ich einräumen, bis in die Knochen deutsch zu sein. Und wieso eigentlich "einräumen". Hat er jetzt zugegeben, ziemlich deutsch zu sein  ... auch blöd. Viele Landsleute scheinen zu leugnen, dass es überhaupt einen Nationalcharakter gibt. Und dann komme ich, und gebe es zu, deutsch zu sein. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn dann junge Menschen - nicht nur die, aber besonders diejenigen, denen es (sozial) nicht ganz so gut geht wie uns beiden -, wenn die dann ganz trotzig "stolz darauf (sind), ein Deutscher zu sein".

Was mich selbst betrifft - im klaren sowohl darüber, dass ich "typisch deutsch" bin, als auch darüber, dass es nicht wenige Niederländer gibt, mit denen ich nicht befreundet sein möchte -, ist mir die holländische Mentalität lieber als die deutsche. Oder nehmen wir den mediterranen Lebensstil ...

 

Werner Jurga, 10. Oktober 2003

 

[Jurga] [Home] [März 2010] [Marxloh stellt sich quer] [Februar 2010] [Januar 2010] [2009] [2008] [2007] [Oldies] [2007 / 2008] [Tagebuch 2007] [Texte Dez. 2007] [Texte Nov. 2007] [Texte Okt. 2007] [Texte Sept. 2007] [Texte Aug. 2007] [Kontakt]