Sozialer Mindestbedarf

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Ulf Meinke regte mich mit seinem Artikel “132 Euro - zum Leben genug?” (WAZ, 06.09.2008) zu folgenden Überlegungen an:

Da legt ein renommierter Wissenschaftler eine Studie mit Forschungsergebnissen vor, die auf akribisch erhobenem Datenmaterial beruhen. Und wie ist die öffentliche Reaktion in Deutschland? Wird die Studie überhaupt, geschweige denn gründlich gelesen? Lässt man sich auf die Arbeit wenigstens insofern ein, dass man das akademische Gedankengebäude zumindest in groben Zügen zur Kenntnis nimmt?

Aber nein. Die Resultate passen nicht in den Kram. Das reicht; da wird sich erst gar nicht mit deren Warum und Wie auseinandergesetzt. Da wird sofort losgeschrieen, protestiert, denunziert – ja denunziert. Die Seriosität einer Untersuchung wird einfach mal so in Frage gestellt. Beschämend genug.
Besonders delikat: die Rede ist von einem der Marktwirtschaft verpflichteten Forscher an der Uni Chemnitz. Chemnitz – eine Stadt, der vor noch nicht allzu langer Zeit sogar verboten wurde, ihren Namen zu tragen. Sie wurde zwangsweise – ja, so war das in der DDR – in „Karl-Marx-Stadt“ umbenannt. Die Menschen in Chemnitz sind lange wieder frei, und jetzt geht da jemand hin, der sich richtig ins Zeug legt, jemand wie Prof. Dr. Thießen, einer der sich während seiner akademischen Laufbahn ausgiebig mit dem Bank- und Börsenwesen befasst hat. Der geht dorthin und gründet einen Studiengang für "Investment Banking in Deutschland" – ja dort in Chemnitz. Damit die da auch mal lernen, wie das alles so geht in der freien Marktwirtschaft.

Sozialpolitik in der freien Marktwirtschaft

Jetzt hat sich Thießen, und das ist der Stein des Anstoßes, mit der Sozialpolitik beschäftigt. Die soziale Seite der ganzen Sache ist doch schließlich auch wichtig; denn wir haben doch eine soziale Marktwirtschaft. Die Forschungsfrage lautete: wie viel Geld braucht eigentlich so ein Arbeitsloser? – Ja, das muss man doch wissen; denn es soll ja niemand zu wenig haben. Andererseits soll das soziale Netz auch von niemandem ausgenutzt werden können.
Also geht Professor Thießen hin, zusammen mit einem Mitarbeiter, und forscht und forscht. Haarklein, was man so braucht, was alles so kostet. So etwas dauert natürlich eine Weile; deshalb sind die Ergebnisse allesamt auf Basis von 2006. Na egal, es kommt ja nicht auf den Euro an.

So eine Berechnung der Höhe der sozialen Mindestsicherung ist schon kompliziert genug. Deswegen wird sicherheitshalber auch eine Spanne von mehr als hundert Prozent gelassen zwischen dem Mindestmaß und dem, was nun wirklich das höchste der Gefühle wäre.
Ergebnis: 132 Euro monatlich müssten zur Existenzsicherung ausreichen, maximal benötigt werden 278 Euro. Wohlbemerkt: für 2006 – für 2008 könnten es von mir aus ruhig zwei, drei Euro mehr sein; für 2009 meinetwegen sogar vier. Wie gesagt: es kommt ja nicht auf den Euro an. Nur, Sie wissen das ja in etwa auch: diese Nichtstuer bekommen ja Monat für Monat 200 (zweihundert!) Euro mehr, als sie eigentlich brauchen! Und das sind ja Millionen und Abermillionen Leute. Überlegen Sie doch mal, wie sich das läppert.

Und wer zahlt das alles? – Die Supermarktkassiererin und die Friseurin, der Wachmann und der Briefträger, von ihrer Lohnsteuer und Sozialbeiträgen. Eine Frechheit, wenn man drüber nachdenkt! Aber anstatt sich mal zu schämen oder einfach nur mal abzutauchen und ganz schön die Schnauze zu halten, drehen die Sozialschmarotzer, wenn die Tatsachen ans Tageslicht kommen, so richtig auf. Ein Protestgeschrei. Klar, die haben ja Zeit für so was: Leserbriefe Schreiben, Land und Leute verrückt machen, eine mächtige Lobby aufbauen. Wann, bitte schön, soll denn ein tüchtiger Arbeitnehmer so etwas machen?

Nichtstuer mit mächtiger Lobby

Diese Frage stellt sich aber scheinbar kein Mensch. Vermeintliche oder tatsächliche Empörung über Prof. Thießen prägen das Bild. Der Pöbel scheut nicht vor unverschämter Feindseligkeit zurück. Nur ganz selten schafft es in dieser Atmosphäre eine Stimme der Vernunft, überhaupt durchzudringen. Hier sogar ein menschlich bewegendes Beispiel für Verständnis mit den Leistungsträgern unserer Gesellschaft.
In der WAZ vom 06.09.2008 finden wir einen Leserbrief von Heinz K. aus Bochum, der ganz direkt auch einmal diese – in Deutschland unerwartete – Frage aufwirft:

Was denken sich Menschen, die ein Monatseinkommen
von 3000 und mehr Euro haben, eigentlich?

Statt des allgegenwärtigen Sozialneids sehen wir bei Herrn K. ein deutliches Zeichen von Empathie, ja: von menschlicher Anteilnahme:

Man redet hier von Menschen, die leben
müssen und nicht nur ihr Dasein fristen.

Richtig! Und das gilt eben nicht nur für so arme Fuzzys, die mit drei Mille oder ein bisschen mehr jeden Monat abgespeist werden. Auch diejenigen, die wirklich Leistung bringen, ja Spitzenleistungen, und deshalb freilich erheblich mehr verdienen als der von Heinz K. zur Beruhigung der Gemüter angeführte Kleckerbetrag, auch für unsere Leistungsträger, ja: gerade für die, gilt erst recht: die müssen leben können.

Ganz offensichtlich denkt Heinz K. in seinem Leserbrief an Herrn Prof. Dr. Thießen. Der ist echt nur am Malochen. Forschung, Lehre – also Studien und Studentenausbildung. Und dann noch die ganzen Fachaufsätze in Fachzeitschriften. Hier trägt einer seiner Aufsätze den Titel: "Mit Geldzählen ist es nicht getan."
Eben. Damit ordentlich was reinkommt, muss er mächtig dafür schuften. Und dann muss er auch noch gucken, dass die ganze Kohle auch richtig angelegt wird. Aber da kennt Thießen sich ja aus.
Einer seiner Beiträge trägt die Überschrift:

"Die Macht der Kurven - Anregende Beobachtungen …

ja Moment. Ist noch nicht zu Ende, der Titel des Aufsatzes.

… rund um den Aktienmarkt".


Werner Jurga, 07.09.2008

 

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07.09.2008

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