Günther Weiss
Weiss, Günther

Günther Weiss
Foto: zigeuner.de

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Für das Heft 7/8-2005 der Monatszeitschrift Der Kriminalist, sozusagen das Flaggschiff der Publikationen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), schrieb Günther Weiss eine Kurzfassung über

Geschichte, Kultur und Verfolgung der
Sinti und Roma -
seit 600 Jahren in Deutschland

Seit 2009 steht der Text online im Internetportal zigeuner.de. Seine Lektüre sei ausdrücklich empfohlen. Wem jedoch diese Kurzfassung immer noch zu lang sein sollte, möge dieser Auszug, nämlich der Schlussteil, als Einstieg ins Thema dienen.

Es wäre falsch ein geschlossenes,
widerspruchsfreies Bild "der Zigeuner" vorzugaukeln

Erst die Gründung des Deutschen Reiches 1871 erlaubte die langfristige Koordinierung der antiziganistischen Repression. Bereits im Jahre 1871 wies das Großherzogliche Innenministerium Hessens mit Berufung auf das Berliner Reichskanzleramt die Kreisämter an, eingewanderten Roma die Ausstellung von Gewerbescheinen zu versagen und bei heimatberechtigten Sinti mit größter Vorsicht vorzugehen. 1886 hatte man den Zwangstransport für "Zigeuner ohne deutsche Staatsangehörigkeit" zur Staatsgrenze eingeführt.
Die systematische Überwachung der gesamten Volksgruppe begann in Deutschland bereits im Jahre 1899 in Bayern. Nachdem die deutschen Sinti und Roma schon im Ersten Weltkrieg als Soldaten für Deutschland gekämpft und hohe Tapferkeits- Auszeichnungen der kaiserlichen Armee erhalten hatten, wurde dann im Juli 1926 in Bayern mit dem ersten Sondergesetz der ersten deutschen Republik, dem "Zigeuner- und Arbeitsscheuen-Gesetz", die "Zigeunerpolizeistelle" beim Polizeipräsidium München als gesamtdeutsche Erfassungs- und Überwachungszentrale eingerichtet. Gut sechs Jahre später konnten die Nationalsozialisten darauf ihre Vorbereitungen zum Völkermord aufbauen. Diese Sondergesetze und Sonderzentralen waren schon damals ein Verstoß gegen die Verfassung der Weimarer Republik.

Ab 1911 wurden von allen „Zigeunern“ automatisch Fingerabdrücke genommen. Im 1. Weltkrieg kämpften und starben viele Sinti für Deutschland. Viele überlebende Sinti erhielten hohe Auszeichnungen, waren nach dem Krieg jedoch oft erneut ohne Arbeit und Unterhalt. Die Erfassung durch die staatlichen Stellen der Polizei setzte sich fort und bildete im Nazideutschland die Grundlage für die systematische Vernichtung der Sinti und Roma. So erhielt die Polizei 1936 vom Reichsinnenminister die Empfehlung, in ganzen Landesteilen gezielt Razzien auf Zigeuner zu veranstalten. Die "Landesfahndungstage" lieferten dann auch die absolute Grundlage für eine aktuelle Zigeunererfassung im Reichsmaßstab. Bereits 1936 (!) trafen die ersten Zigeunerhäftlinge in Dachau ein. (500.000 Sinti und Roma starben unter den Rassegesetzen der NS-Zeit). Nach dem zweiten Weltkrieg führten sogenannte Landfahrerzentralen der Polizei weiterhin systematische Erfassungen der Sinti und Roma durch. Merkmalskarteien waren mehrstellige Nummern, die selben, die SS den Sinti und Roma in den Konzentrationslagern eintätowiert hatten. Auch Baden-Württemberg gab nach dem Krieg einen "Leitfaden zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens heraus", der den Beamten, so das im Duktus der NS-Zeit gedankenlos gehaltene Begleitschreiben, "bis zur endgültigen Lösung des Zigeunerproblems", eine vorläufige Hilfe sein soll. Die jahrhundertelange Verfolgung, vor allem auch durch die Polizei, hat zu einem fast angeborenen Misstrauen gegenüber der Polizei und staatlicher Macht geführt.

Etwa 120.000 Mitglieder beider Bevölkerungsgruppen leben in der Bundesrepublik. Etwa 10 Millionen in Europa. Sie nennen sich Rom, d.h. Mensch. Als Mensch gesehen und behandelt zu werden, ist eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit. Dass sie dieses Selbstverständnis immer noch fordern und erkämpfen müssen, stellt die behauptete Menschlichkeit unserer Gesellschaft in Frage. Sich mit der Kultur und den Problemen der Sinti und Roma zu befassen, beinhaltet auch unsere Verhaltensweisen und hält uns einen Spiegel vor. Die Dummheiten und Vorurteile, die heute noch manche Gehirne verstopfen, müssen aufgedeckt werden. Aber auch zu romantische Klischees gilt es zu überwinden, wenn man Sinti und Roma ernst nehmen will. Es wäre falsch ein geschlossenes, widerspruchsfreies Bild "der Zigeuner" vorzugaukeln. Derartige Verallgemeinerungen und Vorurteile sind bestenfalls Witze, wie die über Schwaben und Ostfriesen, schlimmstenfalls aber Todesurteile, gerade wenn es um Minderheiten geht, wie die Sinti und Roma.
1990 war eine der wenigen Gemeinsamkeiten in Deutschland eine allgemeine Abneigung gegen die Zigeuner. Die Toleranz in der Bevölkerung für diese Menschen ist sehr gering und die verallgemeinernden Äußerungen sind als beschämend zu bezeichnen. Vorurteile sagen nie etwas aus über die Menschen, die sie beschreiben - Vorurteile sagen jedoch sehr viel aus über die Menschen, die Vorurteile benutzen. Diskriminierung beginnt immer schon mit der Geringschätzung Andersdenkender.

Mein Vater Ludwig Weiss, er starb 2002, war einer der wenigen Überlebenden der Hölle von Auschwitz. Das einzige Verbrechen, welches er begangen hatte, war seine Abstammung. Sein Leben lang verfolgten ihn die grausamen Ereignisse in Auschwitz, denen er als Jugendlicher ausgesetzt war.

Günther Weiss

 

Günther Weiss ist Sinto und Kriminalhauptkommissar; er ist Leiter der Kriminalpolizei in Kehl/Rhein.

 

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