Die Verwöhnungsfalle

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Verwöhnt, viel zu verwöhnt …

… sind die Blagen heutzutage. Meinte auch schon mein Großvater – Anfang der 60er Jahre. Und das meinte er so, wie er es sagte. Er meinte also nicht nur mich – mich sowieso. Er meinte alle Blagen, folglich etwas später: die Jugend von heute.
Damit stand er fest in der Tradition von Seneca und anderer Philosophen der griechischen Antike. Schließlich stehen wir alle ja irgendwie in deren Denktradition. Egal, ich jedenfalls habe nicht zuletzt meinem Opa meinen festen Halt im antiken, aber fundamentalen und gerade deshalb so zeitlos modernen Denken zu verdanken.
Und so, wie er mir dieses Wissen weiter gegeben hatte, reiche ich es auch an meine Kinder weiter. Meiner Tochter sage ich es jeden Tag: „Verwöhnen ist gar nicht gut.“ Und, da die Kleine unerfreulicherweise, aber doch ganz unvermeidlich auch mitunter noch von anderen Erwachsenen behütet wird, gebe ich jedes Mal nachdrücklich und nachhaltig durch: „Ich will auf gar keinen Fall, dass meine Tochter verwöhnt wird!“
Selbstverständlich erkläre ich, denn ich bin ja nicht von gestern, meiner Kleinen auch warum. – Warum Verwöhnen gar nicht gut ist. Schau mal, sage ich ihr dann liebevoll, das Leben hat immer Höhen und Tiefen. Jeder hat auch mal Rückschläge zu verkraften. Und vor allem: man kann nicht immer alles haben. Du kannst nicht immer bekommen, was Du willst. You can´t always get what you want. Das eine Mal wird sich die Lisa den Kevin schneller geschnappt haben als Du, ein andres Mal spannt Dir die Saskia den Marvin aus. Und wenn Du Dich von diesen Tiefschlägen erholt hast, weil Du Dir sagst, der Lukas ist sowieso viel süßer und viel netter als diese Scheiß-Typen wie Kevin und Marvin – weil Du mit dem Lukas auch echt mal vernünftig reden kannst, ohne dass der gleich anfängt zu Baggern. Und dann kannst Du auch den nicht haben, obwohl der gar keine Freundin hat, obwohl der immer so lieb zu Dir ist. Der will einfach nicht. Nur weil der schwul ist.

Fit machen für´s Leben

Erzähle ich nur mal so als Beispiel. Oder ich erkläre meiner Tochter … Moment. Sie stellt eine Zwischenfrage. Ach wie originell, typisch Frauen und Gedöns: „Sind denn eigentlich alle netten Männer schwul?“ – „Boh! – Ja!“ Weiter im Text: das Geld reicht sowieso nie. Da kannst Du den besten Job haben und den reichsten Max noch dabei. Wenn Du den Hals nicht voll, oder wenn Du einen dicken Hals kriegst, wenn irgendeine doofe Tussi mal wieder mehr hat als Du … Da kannst Du nichts machen. Das Millionärstöchterchen ist jetzt Zahnarztgattin, gegen die kommst Du nicht an. Das musst Du wegstecken können.
Würde ich Dich aber verwöhnen, sage ich ihr, dann könntest Du später nichts einstecken. Ach was, später, jetzt schon. Verwöhnte Blagen knatschen nur rum. Und wenn sie später mal erwachsen sind: eine Enttäuschung, und schon ist aus!
Da kann sie mal froh sein, dass es Verwöhnen bei mir nicht gibt. Ist sie auch, glaube ich. Denn immer wenn ich ihr dies so oder ähnlich erläutere, schmunzelt sie mich an. Sie liebt mich im Grunde für dieses gesunde Maß an allgemeiner Abhärtung. Steht so ähnlich auch schon in der Bibel, nur ein wenig drastischer, altes Testament, da war man noch verdammt hart drauf.

Albert Wunsch, den ich als Supervisor kenne und wegen seines analytischen Bisses schätze, führt seit einiger Zeit einen Kreuzzug gegen die „Verwöhnungsfalle“. Dr. Wunsch ist ein katholischer Hardliner; deshalb kennt er, wenn es um die Kinder geht, kein Pardon mit unsereins, den Eltern. Wunsch ist ein Guter. Als Mensch und als Denker. Wird aber das eine mit dem anderen vermischt, also: fehlt die gebotene wissenschaftliche Distanz zum Thema, wird aus dem menschlichen Denker nur allzu leicht ein Wunschdenker - hihihi, kleiner Scherz. Doch das kleine Wortspiel passt; denn Wunschdenken ist ein anderes Wort für Ideologie. Keine Ideologie ohne Mission, keine Mission ohne den Missionar. Frommer Wunsch.
Und weil das, was Wunsch predigt, nicht alles  herbeiphantasiert ist, spricht er der WAZ-Redakteurin Britta Heidemann so richtig aus der Seele:

Kinder wollen ja erzogen werden. Wie aber Eltern heute verfahren, mündet oft in eine verfahrene Situation. Von der "Verwöhnungsfalle" sprechen Experten. "Falsches Helfen, fehlende Begrenzung, ausbleibende Herausforderung" geißelt etwa der Kölner Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch als größte Erziehungsfehler, die beim Kind zu "Nichtkönnen, Abhängigkeit, Anspruchshaltung" führten. Warum tun Eltern ihren Kindern das an?

Die Antworten folgen, der Tenor insgesamt: wegen einer Mischung aus Blödheit, schlechtem Gewissen und purem Egoismus.
Frau Heidemann ist von diesem Wunschdenken dermaßen begeistert, dass sie zur „Verwöhnungsfalle“ gleich eine neue WAZ-Serie ankündigt:

Kinder sind ein ausgesprochen kostbares Gut. Umso kostbarer offenbar, je seltener und später wir sie bekommen. Erziehungsexperten raten heutigen Eltern aber dringend, ihren Nachwuchs nicht zu verhätscheln. In einer kleinen Serie wollen wir verschiedene Aspekte der "verwöhnten Kindheit" aufzeigen.

Denen geht es allen viel zu gut

Es ist höchste Zeit, dass wir das mal lernen; denn wir haben es ja nicht gelernt. Wir können ja nichts dafür. Wir sind ja selbst die „Generation V“, die Verwöhnten. Sagte auch schon mein Opa. Es müsse mal wieder Krieg kommen, damit die Blagen mal wieder wissen, wie das ist: all die Entbehrungen, hier mal Hungern, da mal Trauern. Hatte er doch Recht, mein Opa! „Die Unfähigkeit zu trauern“ – ist ja auch so was. Und wenn ich heute die Blagen schon höre: „Ich habe Hunger!“ Die verwöhnte Brut, die weiß doch gar nicht, was das ist: Hunger. Wir damals, Hungerwinter 46 / 47, ach was rede ich, schlimmer noch: 47 / 48, wir hatten Hunger!
Aber die heute?! Die haben höchstens mal den kleinen Hunger zwischendurch. Und für den gibt es ja bekanntlich Knoppers.

Mein Opa hatte den Krieg nicht in besonders guter Erinnerung. Allein schon der Hunger nach dem Krieg. Wieso erst danach Kohldampf geschoben wurde, hat sich der antik denkende Hilfsarbeiter nie gefragt – wäre jetzt auch hier ein völlig anderes Thema. Opa konnte sich das auch gar nicht fragen; denn er hat echt nicht viel gelernt. Im Ersten Weltkrieg der Papa „gefallen“, also mit 12 Jahren raus aus der Schule, ab nach Thyssen zur Schichtarbeit, damit die Familie etwas zu Kauen hat. Opa hat nie darüber geklagt. Ja, die Thyssens, echte Nazis, nicht nur so Mitläufer wie viele andere Stahlbarone; gute Sozialpolitik haben sie gemacht, und so brachte es Opa zum eigenen Häuschen. Und als im Zweiten Weltkrieg eine Bombe genau auf unser Häuschen fiel, hatte er ein Riesenglück. Denn die Plätze im Bunker überließ er den Alten, Frauen und Kindern; er war im Keller, und das Ding explodierte nicht. Ein Blindgänger. Doch die Kellertreppe ging halt doch kaputt. Da hat er sich den Weg nach oben eben mit dem Vorschlaghammer frei gekloppt. Kein Problem für meinen Opa. Nur eben dieser Blindgänger. Mein Opa war nicht so einer, der Angst gehabt hätte. Aber so ein paar Bedenken kamen ihm da halt doch … wegen dieser doofen Bombe. Was wäre gewesen, hätte er die mit dem Hammer getroffen.
Na egal, alte Geschichte, musste ich mir vierzehn Jahre lang jeden zweiten Tag anhören. Die Story vom furchtlosen Supermann. Okay, ich habe rausgehört: ein bisschen Schiss hatte er schon.

 

Aber so verhätschelt, so verwöhnt, oder - wie er sich ausdrückte - so verpissellt wie ich, wie wir, die „Generation V“ war er nicht. Und wenn der es sehen könnte, was sich unsere Brut so alles rausnimmt, die kleinen Paris-Hilton-Terroristen: im Grabe würde er sich umdrehen!
Im Grunde: arme Kinder. Nichts gewohnt, keine Abhärtung. Wie gut haben es da die Kinder in Georgien, egal von welchem Stamm. Abchasier, Ossetier, Kern-Georgier: ohnehin schon ganz bescheiden aufgewachsen geht es jetzt endlich auch mal ab in den Keller. Erlebt man mal so einen Luftangriff mit. Bislang (10.08.2008; 0:00 Uhr) erst etwa zweitausend Tote, Überlebenschancen also durchaus realistisch.
Klare Win-Win-Situation: zieht sich der Krieg in die Länge, hat man gute Chancen, für den eigenen Stamm sterben zu dürfen. Ist die Sache alsbald zu Ende, ist noch mehr Bescheidenheit angesagt als vor dem Krieg. Kinder mit Entwicklungspotenzial, abgehärtet, hoch motiviert, es kann nur noch aufwärts gehen …
Aber unsere hier. Wie gesagt: ich halte ein strenges Auge auf meine Tochter. Verwöhnen gibt es nicht. Bei mir zählt nur Lernen und Leistung. Damit sie später stolz sein kann auf ihre eigene Leistung. Schwerpunktmäßig fordere und fördere ich Sport (nur in einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist, guck mich an), Englisch (Globalisierung und so) und Internet-Kenntnisse (ebenfalls Globalisierung und so). 1. Sport, 2. Englisch, 3. Internet – Leute, das steht in allen Zeitungen; da muss geklotzt werden statt gekleckert.
Damit war das Ferienprogramm für meine Tochter im Grunde gesetzt: 1. Center-Park (Schwimmen bis zum Abwinken), 2. Kreuzfahrt nach Newcastle (auch an Bord nur Englisch), 3. Anschaffung eines neuen Notebooks (ohne W-LAN bleibt nur Putzen oder Hamburger Umdrehen).

Soll ich Ihnen etwas sagen? – Die arme Kleine hat alles überlebt, alle drei pädagogischen Maßnahmen während der unterrichtsfreien Zeit (wenn ich schon „Ferien“ höre!). Sicher, es ist hart. Aber irgendwann einmal wird sie mir dankbar sein.

Werner Jurga, 10.08.2008

 

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