WERNER JURGA

 

 

 

 â€žAnständiger Realismus “ ist die Ăśberschrift, die Lutz Heuken, verantwortlicher WAZ-Redakteur fĂĽr das Ressort AuĂźenpolitik, fĂĽr seinen Kommentar am 26.09.2007 gewählt hatte (siehe unten). „Anständiger Realismus “ möge die Leitlinie der deutschen AuĂźenpolitik sein, d.h. ist er schon, wenn man ihm folgt.

 

“Anständiger Realismus”

 

Die WAZ hat das wohl von der Bildzeitung eingeführte „Rechts-Links-Spiel“ (Gauweiler-Lafontaine) übernommen. Ein Wirtschaftsjournalist ist der Rechte, Lutz Heuken der Linke. So auch hier: in der Außenpolitik komme es nämlich nicht nur auf Realismus an, selbstverständlich könne man darauf nicht verzichten. Und die Realität ist nun mal nicht so, wie ein Linker sie sich wünscht. Dennoch Realpolitik – Bismarck, ick hör Dir trapsen! Also Realpolitik, aber anständig!

Dass Deutschland nach Bismarck die Realpolitik zeitweise etwas aus dem Auge verloren und seine internationalen Beziehungen – wohl eher etwas unrealistisch – nach dem Motto „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ gestaltet hatte, kam Heuken nicht in den Sinn. Denn er plädiert ja für eine Realpolitik, verteidigt sie gegen ihre Kritiker, denen er dann freilich ein wenig entgegen kommen muss: „Realismus in der Außenpolitik zu verteidigen, heißt indes nicht, dem Opportunismus das Wort zu reden.“ Nein, die Lösung ist: eine Realpolitik mit Anstand.

der Anstand als solches

 

Es folgt ein Exkurs zum Begriff „Anstand“ – in linken Kreisen bringt ein Appell an denselben immer ordentlich Applaus. Ob der auch von Linken erfunden worden ist? Keine Ahnung, wäre ich als Kind aber nie drauf gekommen. „Werner, setz Dich anständig hin!“ „Werner, gib das anständige Händchen!“ „Werner, benimm Dich bloß anständig!“ Nun kann ich mich nicht daran erinnern, dass meine Vorfahren in der SPD waren oder in irgendeiner linken Sekte (andere linke Parteien gab es ja damals nicht). Die haben nicht einmal SPD gewählt. Die hatten Anstand! Waren nämlich anständige Leute: deshalb waren sie ja auch nicht in der SPD. Immerhin sind ihnen dadurch die unzähligen SPD-Sitzungen erspart geblieben, auf denen der Ruf sich nach Anstand durch meine Ohren in mein Rückenmark gebohrt hat.

Wie übersetzt man eigentlich das schöne deutsche Wort „Anstand“ ins Englische. Google schlägt „behaviour“ vor; das ist aber etwas Anderes. Im Wörterbuch nachgeschlagen, findet man „decency“ – damit geht´s dann auch bei Google. Hand aufs Herz: wenn verlangt wird, „anständig“ zu sein, ist damit dann „dezent“ gemeint? Aufstand der Dezenten? Nein, „Anstand“ ist einmalig, lässt sich nicht übersetzen.

„Anständig“ soll laut Google auf Englisch „decently“ heißen; aber in der umgekehrten Richtung, also bei „decently“, weiß auch Google keinen Rat. Also: „decent“ – übersetzt Google mit „annehmbar“.

Ich stelle mit gerade vor, zwei Damen lobten einen Herrn mit der Ansicht, dieser sei ja so „dezent“. Es dürfte wohl nicht lange dauern, bis die beiden sich die Frage stellen: “Sind denn eigentlich alle dezenten Männer schwul?“ – Wie auch immer: ein „dezenter Herr“ ist jedenfalls nicht identisch mit einem „anständigen Kerl“.

 

Zurück zum Thema: eine dezente deutsche Außenpolitik wäre mir wesentlich lieber als eine anständige.

Dezent ist aber nicht so ganz unsere Art. Kohl, anfangs noch zur Zurückhaltung gezwungen, schaffte es auch dann, als Deutschland seine „volle Souveränität wiedererlangt“ hatte, dafür zu sorgen, dass „kein deutsches Blut vergossen“ wurde. Die Anführzeichen um die beiden letzten Drei-Wort-Sprüche zitieren niemanden Bestimmten – man spricht hier halt so – in der Polit-Szene. Kohl verstieg sich auf die „Scheckbuch-Diplomatie“ – und diese Redensart war keineswegs anerkennend gemeint. Da lernen wir uns unserer dunklen Vergangenheit, lassen keinen Krieg von deutschem Boden ausgehen, und dann müssen wir dafür auch noch blechen!

 

der deutsche Anstand

 

So konnte es einfach nicht weiter gehen. Kohl wurde abgewählt, und Schröder erklärte sogleich, dass die „Scheckbuch-Diplomatie“ ein Ende haben werde. Und dass die ganze deutsche Blecherei für Brüssel, EU und so, und für alles Mögliche nun ebenfalls aufhöre. Und die deutsche Zurückhaltung auch!

Militäraktionen wurden selbstverständlich mit Moral und Anstand begründet. Und als das deutsche Ansehen „im Ausland“ drohte, Schaden zu nehmen, so weit, dass sogar der Investitionsstandort und die Exportweltmeisterschaft beinah auf der Kippe gestanden hätten, nur weil die Zahl der ermordeten Nicht-Deutschen immer schneller anwuchs, rief Schröder den „Aufstand der Anständigen“ aus. Was den „Aufstand“ betrifft: die gesamte Polit-Spitze stand in erster Reihe vor den Fersehkameras.

Mit dabei: Frau Merkel, die etwas später zwar bekanntlich nicht die Bundestagswahl gewinnen konnte, die von dem lauten Schröder vorgezogen wurde, ihm aber dennoch nachfolgen durfte. In den ersten Monaten ihrer Regentschaft schien sie die Herren dieser Welt mit dem Eindruck umgarnt zu haben, ihr Auftreten sei „dezent“ (s.o. „annehmbar“). Nach der blinden Verliebtheit scheinen die Herren in Peking, Moskau und Washington inzwischen die dezente Merkel besser, also deutscher zu verstehen: alle drei loben die Kanzlerin dafür, dass sie – statt diplomatischer Schnörkel – klipp und klar ihren Standpunkt vertrete, also „dezent“ im Sinne von „anständig“. Im Gegensatz zu Schröder, der lieber daheim, vielleicht noch in den USA anständig auf den Bush geklopft hat, bezieht Merkel die Menschenrechte in ihre Außenpolitik mit ein. Dies ist freilich – und hier kommen wir zu Lutz Heukens´ Kommentar:

 

„ein schwieriges und sensibles Geschäft“

 

„Mit Menschenrechten Politik zu machen, ist ein schwieriges und sensibles Geschäft.“

Schon dieser Satz an und für sich – einfach noch mal lesen und genießen ...

Da aus dem Kommentar an und für sich nicht hervorgeht, worauf Bezug genommen wird, sei dies hier kurz erklärt, obgleich dieses Thema eigentlich auf dieser Internet-Site nichts zu suchen hat. Bundeskanzlerin Merkel hat in Deutschland den Dalai Lama empfangen, worüber die chinesische Führung not amused war. Jetzt sagen die einen, man könne doch die Chinesen nicht vergraulen (Handelsmacht und so), während die anderen sagen, man solle sich bloß nicht von diesen Menschenschindern einschüchtern lassen, es gehe um die Freiheit Tibets, und überhaupt sei der Dalai Lama ein faszinierender Mann.

So ist das in einer Demokratie: die einen sagen so, die anderen so. Da muss die WAZ schon abwägen. Aber eine Sache ist sowohl den einen als auch den anderen völlig klar: wir sind die Guten, die anderen die Bösen. Daher sei es „verlockend ..., die Menschenrechts-Verletzer der Welt abzustrafen“, also z.B. „Peking, Moskau oder Washington“. Dann könne man „sich des Beifalls der Edlen sicher sein“.

Das wäre natürlich hoch anständig, geht aber leider nicht, ist nämlich nicht realistisch, leider, oder, wie es im WAZ-Kommentar heißt: man„beraubt sich aber seines Einflusses in der Welt“. Na, so blöd sind wir Deutsche nun auch wieder nicht. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, sagt uns der Anstand; geht aber leider nicht, sagt uns der Realismus. Wie gesagt: die einen sagen so, die anderen so. Aber eine Sache ist allen auch völlig klar: wir stehen wieder mal ohnmächtig der Unanständigkeit in der Welt gegenüber.

Da ist es nur logisch, dass Fremde in diesem anständigen Land nicht auf Freundlichkeit hoffen können, und einfach nur mal so, weil sie Fremde sind oder auch nur so aussehen, totgemacht werden. Von einfachen, oder sagen wir: sehr einfachen Bürgern, die sich für hoch anständig halten, und sich deshalb am „Aufstand der Anständigen“ selbstredend nicht beteiligt hatten. Fairerweise ist hinzuzufügen, dass sie von Behörden nur in Ausnahmefällen ins Jenseits befördert werden – wenn sie auf der Wache Widerworte geben oder, statt sich abschieben zu lassen, einfach illegal hier bleiben wollen.

Wie gesagt: Ausnahmen im Land der Anständigen. Allerdings listet amnesty international auch Deutschland unter die Menschenrechts-Verletzer auf, komischerweise gar nicht mal auf den hinteren Plätzen. Dazu ist zu wissen, dass die Bundesregierung dagegen regelmäßig protestiert, wie übrigens auch Peking, Moskau oder Washington. Aber denen geht es ja nur um Macht. Uns dagegen geht es, wie wir lesen, um „den Einfluss in der Welt“, realpolitisch gesprochen. Und natürlich um den Anstand, „ein schwieriges und sensibles Geschäft“.

 

schwierig: Anstand und Geduld zusammen

 

Da muss man schon mal, wie vor der UNO-Vollversammlung, auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat pochen (Stichwort: „Verantwortung übernehmen“). Und da muss man auch schon mal dem Herrn Achmadinedschad klipp und klar sagen, dass der Iran zu beweisen habe, keine Atomwaffen anzustreben (hier: Anstand). Gleichzeitig aber selbstverständlich hinter den Kulissen den Herren Bush und Sarkozy verdeutlichen, dass wir unseren Handelspartner Iran nicht deswegen mit Sanktionen zu vergraulen gedenken, nur weil er Israel von der Landkarte radieren möchte.

Frau Merkels „schwieriges und sensibles Geschäft“ - der Beifall aller, von links bis rechts ist ihr sicher. Okay, ganz rechts wird nicht mitgemacht: die NPD ist „solidarisch“ mit Herrn Achmadinedschads Plänen, Juden zu vernichten. Ganz links auch nicht: Herr Lafontaine ist einfach, um des lieben Friedens Willen und wegen gemeinsamer Grundsatzpostionen, für bessere Beziehungen zur islamischem Welt. Spinner halt, zu ungeduldig. Realismus heißt, auch mal warten können ...

Wie bitte? Ich sei antideutsch. Aber ich bitte Sie: ich habe sogar Deutsche als Freunde!

Stopp: im Gegensatz zur Generation meiner Großeltern, die nicht antisemitisch gewesen sein wollen, weil sie ja sogar Juden als Freunde gehabt hatten wollen - die wir aus Gründen, die jetzt nicht hier her gehören, leider nicht mehr fragen können, ob das denn so stimmt -, kann meine Beteuerung, sogar Deutsche als Freunde zu haben, überprüft werden.

Dumm gelaufen: da muss ich relativieren. Ich bezeichne mich – sagen wir mal – als „gemäßigt antideutsch“. Ja, das geht! Haben Sie schon mal einen Deutschen „typisch deutsch“ sagen hören? Na klar! Dann wissen Sie auch, dass es eigentlich immer abfällig gemeint ist. Alles gemäßigt Antideutsche? – Glaube ich nicht. Aber irgendwo her müssen die jüngeren Deutschen doch wissen, dass sie bei allem Anstand auch so ihre Schattenseiten haben. Woher nur?

  

Wie dem auch immer sei: jedenfalls ist es schon eine anständige Zeit her, dass die Deutschen mal anständig was auf die Glocke gekriegt haben. Wir hoffen, dass sich das niemals wiederholt. Deshalb hoffe ich zudem, dass deutsche Außenpolitiker häufiger die Meinung gegeigt kriegen. In Sachen Realismus. Aber anständig!

 

WAZ 26.09.2007 / Politik

Anständiger Realismus

Von Lutz Heuken

 

Mit Menschenrechten Politik zu machen, ist ein schwieriges und sensibles Geschäft. Kein Realpolitiker kann Werte zur alleinigen Richtschnur des Handelns machen. Mit wem etwa sollte Bundeskanzlerin Merkel noch verhandeln? Mit US-Präsident Bush, der einen schrecklichen Krieg im Irak führt? Mit Russlands Präsident Putin, der Demokraten im eigenen Land knebelt? Mit Chinas Führung gar, die ihr Land in ein Menschen verachtendes frühkapitalistisches System überführt hat?

So verlockend es auf den ersten Blick sein mag, die Menschenrechts-Verletzer der Welt abzustrafen, so unrealistisch ist es. Wer mit Peking, Moskau oder Washington den Dialog verweigert, mag sich des Beifalls der Edlen sicher sein; er beraubt sich aber seines Einflusses in der Welt.

Realismus in der Außenpolitik zu verteidigen, heißt indes nicht, dem Opportunismus das Wort zu reden. Herrn Putin einen "lupenreinen Demokraten" zu nennen, wie Schröder es tat, ist schlicht unanständig. Und den Herren in China von Zeit zu Zeit klar zu machen, was man von ihrer Politik hält, scheint dringend geboten.